
Die Zunahme von Kurzsichtigkeit (Myopie) weltweit ist besorgniserregend. Insbesondere Kinder und Jugendliche entwickeln zunehmend Sehfehler, die nicht nur das tägliche Leben beeinträchtigen, sondern auch langfristige Risiken für die Augengesundheit mit sich bringen. Expertinnen und Experten sprechen bereits von einer „stillen Pandemie“, die wesentlich durch moderne Lebensgewohnheiten befeuert wird. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Folgen und wissenschaftlich fundierten Maßnahmen zur Prävention – mit besonderem Augenmerk auf belastbare Studien und Quellen.
Myopie als globales Gesundheitsproblem
Laut einer vielfach zitierten Übersichtsarbeit in Nature (Dolgin, 2015) könnten bis zum Jahr 2050 etwa 50 % der Weltbevölkerung kurzsichtig sein. Besonders in Ostasien, etwa in China, Südkorea oder Taiwan, sind bereits heute über 80–90 % der Schulabgänger von Myopie betroffen (Morgan et al., 2012). Die Autoren dieser Studien sprechen von einer “globalen Epidemie”, die sich schleichend ausbreitet und bislang wenig Aufmerksamkeit in der öffentlichen Gesundheitsdebatte erhält.
Ursachen: Lebensstil vor Genetik
Zwar spielt genetische Veranlagung eine Rolle, doch zeigen zahlreiche epidemiologische Studien, dass Umweltfaktoren – insbesondere Naharbeit und mangelnder Aufenthalt im Tageslicht – die Haupttreiber der Myopieentwicklung sind. Eine viel beachtete Studie aus Australien zeigte beispielsweise, dass Kinder, die täglich mehr als zwei Stunden im Freien verbrachten, ein signifikant geringeres Risiko für Myopie aufwiesen als Gleichaltrige mit geringerer Außenaktivität (Rose et al., 2008, Ophthalmology).
Digitale Endgeräte verstärken dieses Problem: Kinder verbringen heute mehr Zeit mit Tablets und Smartphones als je zuvor – und der Sehapparat reagiert darauf mit einem Längenwachstum des Augapfels, was zur Kurzsichtigkeit führt (Wojciechowski, 2011, Progress in Retinal and Eye Research).
COVID-19 als Beschleuniger der Entwicklung
Während der COVID-19-Pandemie stieg der Anteil kurzsichtiger Kinder in mehreren Ländern deutlich an. Eine chinesische Langzeitstudie aus dem Jahr 2021 (Wang et al., JAMA Ophthalmology) zeigte, dass sich allein im ersten Jahr der Pandemie die Myopierate bei Kindern im Alter von 6–8 Jahren signifikant erhöhte – parallel zum drastischen Rückgang der Aufenthaltszeit im Freien.
Medizinische Folgen: mehr als ein Sehfehler
Hochgradige Myopie (über -6 Dioptrien) ist nicht nur ein Sehproblem – sie erhöht auch das Risiko für ernsthafte Erkrankungen wie Netzhautablösungen, Makuladegeneration, Glaukom oder Myopie-bedingte chorioidale Neovaskularisation (Flitcroft, 2012, Ophthalmic and Physiological Optics). Die WHO warnt, dass hohe Myopie zur führenden Ursache vermeidbarer Erblindung werden könnte, wenn keine präventiven Maßnahmen ergriffen werden.
Präventionsstrategien: Was hilft nachweislich?
1. Mehr Tageslicht
Ein täglicher Aufenthalt von mindestens zwei Stunden im Freien senkt nachweislich das Risiko, kurzsichtig zu werden (He et al., 2015, Lancet Global Health). Hintergrund ist die Wirkung von Licht auf die Dopamin-Ausschüttung in der Netzhaut, die das Längenwachstum des Auges hemmt.
2. 20-20-20-Regel
Um Naharbeit auszugleichen, wird empfohlen, alle 20 Minuten für mindestens 20 Sekunden in eine Entfernung von 20 Fuß (etwa 6 Meter) zu blicken. Diese einfache Verhaltensregel wird von der American Academy of Ophthalmology unterstützt.
3. Myopiekontrolllinsen
Orthokeratologische Kontaktlinsen oder spezielle Brillengläser (z. B. mit peripherem Defokus) können das Fortschreiten der Myopie um 30–60 % verlangsamen, wie mehrere Metaanalysen bestätigen (Huang et al., 2016, BMC Ophthalmology).
4. Atropin-Augentropfen
Niedrig dosiertes Atropin (0,01 %) zeigt in Studien wie der ATOM2-Studie (Chia et al., 2012) eine deutliche Verlangsamung der Myopieprogression bei Kindern – allerdings mit Unsicherheiten bezüglich Langzeitwirkung und Rebound-Effekt nach Absetzen.
Fazit
Kurzsichtigkeit ist keine Bagatelle, sondern ein gesellschaftliches Gesundheitsproblem mit weitreichenden Konsequenzen. Die Kombination aus zunehmender Naharbeit, eingeschränktem Tageslicht und digitalem Medienkonsum hat ein Umfeld geschaffen, in dem immer mehr Kinder und Jugendliche kurzsichtig werden – und das oft dauerhaft. Frühzeitige Aufklärung, regelmäßige Sehtests sowie einfache Präventionsmaßnahmen wie mehr Bewegung im Freien sind wissenschaftlich belegt und dringend anzuraten.
Quellenverzeichnis:
- Dolgin, E. (2015). The myopia boom. Nature, 519, 276–278. https://doi.org/10.1038/519276a
- Morgan, I., et al. (2012). Myopia. The Lancet, 379(9827), 1739–1748.
- Rose, K. A., et al. (2008). Outdoor activity reduces the prevalence of myopia in children. Ophthalmology, 115(8), 1279–1285.
- Wang, J., et al. (2021). Progression of Myopia in School-Aged Children After COVID-19 Home Confinement. JAMA Ophthalmology.
- Flitcroft, D. I. (2012). The complex interactions of retinal, optical and environmental factors in myopia aetiology. Ophthalmic Physiol Opt, 32(3), 229–239.
- He, M., et al. (2015). Effect of time spent outdoors at school on the development of myopia among children in China. The Lancet Global Health, 3(5), e292–e300.
- Huang, J., et al. (2016). Efficacy comparison of 16 interventions for myopia control in children. BMC Ophthalmology, 16, 206.
- Chia, A., et al. (2012). Atropine for the treatment of childhood myopia: Safety and efficacy of 0.5%, 0.1%, and 0.01% doses (ATOM2). Ophthalmology, 119(2), 347–354.