Durchbruch: „Sehkraft verjüngt?“ – Was ist da dran?

Was wirklich hinter dem vermeintlichen Durchbruch bei Fettsäuren und Alterssehschwäche steckt

Meldungen über medizinische Durchbrüche verbreiten sich schnell – besonders, wenn sie Hoffnung wecken. So auch Anfang Oktober 2025, als Medien weltweit berichteten, Wissenschaftler der University of California, Irvine (UCI)hätten den altersbedingten Sehverlust „umgekehrt“.

Grundlage dieser Schlagzeilen ist eine neue Studie in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine, in der das Team um Prof. Dorota Skowrońska-Krawczyk tatsächlich bemerkenswerte Befunde präsentiert.

Doch was in den Pressemeldungen nach einer Heilung klingt, ist in Wirklichkeit ein experimenteller Befund aus dem Mauslabor – spannend, aber weit entfernt von einer Therapie für den Menschen.

Der molekulare Schlüssel: ELOVL2 und die Alterung der Retina

Das Gen ELOVL2 („Elongation of Very Long-Chain Fatty Acids Protein 2“) ist seit Jahren bekannt als biochemischer Marker des Alterns. Es steuert die Verlängerung bestimmter mehrfach ungesättigter Fettsäuren (PUFAs), die essenziell für die Integrität der Photorezeptorzellen in der Netzhaut sind. Mit zunehmendem Alter nimmt die Aktivität von ELOVL2 ab – die Konzentration von Fettsäuren wie DHA (Docosahexaensäure) sinkt, und die Sehzellen verlieren an Funktion. Frühere Arbeiten zeigten: Wenn Forscher das Gen künstlich aktivieren, verbessert sich bei Mäusen die Netzhautfunktion.

Das aktuelle Team wollte jedoch den umgekehrten Weg gehen: Könnte man die Fettsäuren direkt zuführen und damit den altersbedingten Funktionsverlust umgehen – auch ohne genetische Manipulation?

Was die neue Studie tatsächlich zeigt

In der in Science Translational Medicine veröffentlichten Arbeit („Retinal polyunsaturated fatty acid supplementation reverses aging-related visual impairment in mice“) injizierten die Forschenden älteren Mäusen eine spezifische sehr-langkettige PUFA, die normalerweise durch ELOVL2 gebildet wird.

Die Ergebnisse:

  • Die behandelten Tiere zeigten in elektroretinographischen Messungen (ERG) eine signifikante Verbesserungder Netzhautfunktion.

  • Molekulare Marker des Alterns (u. a. Lipidzusammensetzung, DNA-Methylierung) näherten sich Werten jüngerer Tiere an.

  • DHA-Injektionen allein erzielten diese Effekte nicht.

Skowrońska-Krawczyk fasst es so:

„Wir haben das Potenzial gezeigt, altersbedingten Sehverlust bei Mäusen rückgängig zu machen.“

Grenzen und offene Fragen

So beeindruckend die Daten im Tiermodell sind – mehrere Punkte mahnen zur Vorsicht:

1. Kein Nachweis am Menschen

Die Ergebnisse stammen ausschließlich aus Mausversuchen. Ob dieselben Mechanismen bei Menschen greifen, ist ungewiss. Zwischen Maus- und Menschenretina bestehen deutliche Unterschiede in Lipidmetabolismus, Lebensdauer und Immunantwort.

2. Applikationsweg

Die Tiere erhielten die Fettsäuren intraokular, also direkt ins Auge injiziert – nicht als Nahrungsergänzung. Eine Übertragung auf orale Omega-3-Präparate wäre wissenschaftlich falsch.

3. Unbekannte Substanz

Welche Fettsäure genau verwendet wurde, ist im Paper definiert (eine „very-long-chain polyunsaturated fatty acid“ mit 34 Kohlenstoffatomen). Sie ist nicht Bestandteil handelsüblicher Nahrungsergänzungen.

4. Zelluläre „Verjüngung“ ist relativ

Die Autoren beschreiben molekulare Veränderungen, die typischerweise mit jüngerem Gewebe korrelieren – etwa Lipidprofil und Methylierungsmuster. Ob das wirklich eine funktionelle Verjüngung oder nur eine temporäre biochemische Anpassung darstellt, bleibt offen.

5. Medienhype

Zahlreiche Portale (u. a. Vietnam+, EurekAlert, Medical Xpress) titelten:

„Forscher kehren altersbedingten Sehverlust um“

Solche Formulierungen suggerieren eine therapeutische Relevanz, die noch nicht existiert.

In der Originalpublikation wird kein Heilversprechen formuliert.

Warum die Arbeit trotzdem wichtig ist

Trotz aller Einschränkungen liefert die Studie wichtige Grundlagenforschung: Sie zeigt, dass die gezielte Beeinflussung des Lipidstoffwechsels in der Retina messbare Effekte auf Alterungsprozesse haben kann. Das eröffnet neue Perspektiven für die Prävention oder Behandlung altersbedingter Makuladegeneration (AMD) – einer der Hauptursachen für Erblindung im Alter. Doch bis aus dieser Idee eine sichere Therapie entsteht, sind mehrjährige klinische Prüfungen nötig.

Fazit

Die UC-Irvine-Arbeit ist ein bemerkenswerter Fortschritt im Verständnis retinaler Alterungsprozesse, aber kein medizinischer Durchbruch. Was in Mäusen funktioniert, muss erst durch klinische Studien am Menschen belegt werden – mit geklärter Substanz, Dosis, Sicherheit und Wirksamkeit.

Solange das nicht geschieht, gilt: Omega-3-Fettsäuren bleiben gesund, aber sie verjüngen keine Augen.

Quellenverzeichnis

  1. Skowrońska-Krawczyk D et al. (2025). Retinal polyunsaturated fatty acid supplementation reverses aging-related visual impairment in mice. Science Translational Medicine, Vol. 17(693): eado5487. DOI: 10.1126/scitranslmed.ado5487.

  2. University of California Irvine – News Release (Sept 2025): UCI study identifies lipid supplementation that reverses age-related vision loss in mice. https://news.uci.edu

  3. Skowrońska-Krawczyk D et al. (2019). ELOVL2 is a molecular regulator of aging in the retina. Science Advances, 5(2): eaav4360. DOI: 10.1126/sciadv.aav4360.

  4. Bazinet R.P., Layé S. (2022). Polyunsaturated fatty acids and brain/retinal function. Nature Reviews Neuroscience, 23(6): 381–392.

  5. AREDS2 Research Group / Chew E.Y. et al. (2022). Long-term effects of lutein, zeaxanthin, and omega-3 fatty acids on AMD. JAMA Ophthalmology, 140(3): 238-247.

  6. Vietnam+ (TTXVN) (2025). Đột phá phục hồi thị lực lão hóa nhờ bổ sung axit béo.https://www.vietnamplus.vn (Pressenachricht, sekundäre Quelle).